Ich bin kein Vermittler.
Ich betrachte den Schriftsteller nicht als Vermittler.
Ich betrachte deshalb auch Kanäle, Arbeitsplätze
oder Gefängnisse nicht als etwas, wozu ich Stellung
nehmen muss.
Es ist nicht meine Absicht, Vermittler oder
Produzent von Meinungen und Ideen zu sein,
falls ich gegen meine Absicht als solcher gebraucht oder
missbraucht werde,
betrachte ich das als zufällige Nebenwirkung
oder als notwendiges Übel.
Ich betrachte es also nicht als primäre Aufgabe des
Schriftstellers,
auf die Meinungsbildung einzuwirken,
nicht einmal das Einwirken auf das Bewusstsein
verstehe ich
als besonders zentral.
Ich will auf die Blindheit einwirken.
Die Menschen schaffen die Geschichte in einer
verworrenen Mischung
aus Bewusstsein und Blindheit.
Das Bewusstsein kennen wir, es hat seine Variationen,
mag
sein, dass sie immer mehr werden und in der Praxis
unüberschaubar,
doch im Prinzip ist das Bewusstsein der bekannte Faktor.
Doch stets ist es der unbekannte Faktor, worauf
einzuwirken sich lohnt.
Doch auf die Blindheit lässt sich nicht dadurch ein-
wirken, dass wir die Wahrheit suchen.
Auf die Zufälligkeit lässt sich nicht mit Meinungen
einwirken.
Auf den Würfelwurf lässt sich überhaupt nicht
einwirken.
Doch der Würfelwurf ist es, worauf eingewirkt werden
muss.
Ich betrachte es als die Aufgabe des Schriftstellers, einen
Code
zu konstruieren, der den Würfelwurf lesbar macht.
Eine Wahrheit zu erfinden, die die Zufälligkeit
notwendig macht,
und sich ein Zeichensystem vorzustellen, das die
Blindheit übermittelt,
kurzum, ich betrachte es als Aufgabe des Schriftstellers,
sich mit dem Unmöglichen zu beschäftigen, dem
Unvollkommenem, dem, was
ausserhalb liegt,
versuchsweise eine Sprache zu gebrauchen, die nicht
existiert, noch nicht.
Diese nicht-existierende Sprache nenne ich die
klassenlose Sprache,
so wie die nicht-existierende Gesellschaft von vielen die
klassenlose Gesell-
schaft genannt wird.
Inger Christensen, Die klassenlose Sprache